Weil in den Städten jede freie Fläche zu Bauland wird, flüchtet eine Gruppe von Freigeistern aufs Wasser. Auf dem Fluss, so sagen sie, kann man sie nicht einfach weggentrifizieren. Ein Besuch bei den neuen Berliner Piraten.
Von: Greta Taubert
Eigentlich ist die Rummelsburger Bucht in Berlin ein ziemlich bürgerlicher Naherholungskosmos. Dort, an der Grenze der Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg und Lichtenberg, starten Motorboote mit Ausflugsgruppen ihre Touren auf der Spree, dazwischen kreuzen Stehpaddler und Familien mit Tretbooten. An den Stegen ankern Hausboote, Mietwohnflöße, kleinere Motoryachten, alte Wohnkähne. Aber inmitten dieser gemütlichen Freizeitwelt treibt noch etwas anderes. Etwas Buntes. Etwas, was nach Aufbruch aussieht und von Abenteuern erzählt.
Aus der Ferne sieht man nur seltsame Gebilde aus Holz, Metall und Stoff. Kommt man näher, den Uferweg der Halbinsel Stralau entlang, zeigen sich fünf selbstgebaute, improvisierte Katamarane, Boote, Flöße. Eines ist vollständig aus alten Fenstern gebaut, ein anderes hat einen Schaukelsitz aus einem Einkaufswagen, auf einem hängt ein altes Steuerrad. Schwimmvehikel, selbst zusammengezimmert aus Schrott, Schweiß und Träumen. Ich frage mich: Von wem? Und warum? Und wie kann ich mitfahren?
Es ist niemand an Bord, also besuche ich zuerst einen alten Freund. Sascha wohnt auf einem umgebauten DDR-Pionierschiff an einem Anleger schräg gegenüber der selbstgebauten Flöße. Er holt mich mit einem kleinen Motorboot vom Ufer ab, wir knattern über die Bucht, vorbei an Industrieschiffen, Luxusyachten und einer Gruppe zusammengetäuter Hausboote, die aussieht wie eine Wagenburg – nur eben mit Booten statt Bauwagen. »Jede Woche kommen neue dazu«, brüllt Sascha gegen das Motorengeräusch an. Was sind das für Menschen, die sich selbst ein Boot bauen? Sascha sagt: »Leute, die frei im Kopf sind.« Das klingt nach einer Phrase. Aber während mir der Fahrtwind an den Haaren reißt, der Motor unter der Sitzbank vibriert und die Gischt spritzt, mitten in Berlin; während ich mir vorstelle, wie es wäre, genau hier zu leben, auf dem Wasser, mit der ständigen Bewegung der Wellen unter mir, bekomme ich eine erste Ahnung davon, wie das gemeint sein könnte: frei im Kopf. Die Freiheit, um die es hier geht, reicht allerdings noch weiter.
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Wer sich ein Boot baut, bewegt sich vom gesicherten Grund weg auf ein unbekanntes Element. Anders als in Amsterdam oder London gibt es in Berlin bisher nur wenige Menschen, die auf dem Wasser leben. Wie viele es genau in der Rummelsburger Bucht sind, lässt sich schwer sagen. Einige wohnen hier das ganze Jahr auf Booten oder Flößen, andere zeitweise, manche kommen nur für Stunden auf ihre Boote. Sicher ist: Es drängen seit einiger Zeit auch jene Menschen aufs Wasser, die ihre freien Plätze an Land verloren haben; die mit ihren temporären Clubs, Ateliers und anderen Kulturorten nicht mehr in den Bebauungsplan der Stadt passen. Jene also, die von der Gentrifizierung verdrängt werden: aufs Wasser. Doch auch die Nische, die sie hier gefunden haben, ist schon bedroht.
Sascha zeigt auf die Ufer rings um die Bucht, die mit Luxus-apartmenthäusern dicht bebaut sind. Die Bewohner sind über ihre freiheitsliebenden Nachbarn nicht erfreut und haben mittlerweile eigens einen Verein gegründet. Die »Interessengemeinschaft Erholungssee Rummelsburg« trifft sich regelmäßig zum Stammtisch und fordert, dass keine motorisierten Boote mehr durch die Bucht fahren dürfen. Der Zugang zum Wasser müsse beschränkt werden. Man könnte auch sagen: Sie wollen ihre Ruhe. Direkt an der Insel will außerdem ein Architekt bald »Floating Homes« parken – noble, schwimmende Apartments.
Es fehlt noch eine letzte Genehmigung von der Stadt Berlin. Solange die aussteht, gibt es sie noch, die Nische, in der nicht-kommerzielle Projekte wie die »Kulturflöße« existieren. Das sind jene schwimmenden Plattformen des alternativen Lebens, um die ich vorher herumgeschlichen bin. Jetzt gehe ich an Bord.
Auf dem größten der Flöße, genannt »Anarche«, ist heute ein öffentliches Plenum der »Spree:publik« anberaumt. Unter diesem Namen haben sich Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, die gemeinsam die Kulturflöße gebaut haben. Etwa hundert Menschen sind ehrenamtlich an den fünf Flößen beteiligt, um sich für die »Öffnung der Wasser- und Uferflächen Berlins« einzusetzen, wie sie sagen. Sie sind alle unkommerziell, basisdemokratisch und selbstverwaltet organisiert. Die Flöße gehören niemandem und sollen für alle offen sein, die ihr Recht auf Stadt auch als Recht auf Fluss verstehen. So bunt die einzelnen Objekte aussehen, so bunt sind auch die Vorstellungen davon, was Begriffe wie »Kultur« und »öffentliche Teilhabe« meinen. Im Sommer veranstaltet die »Wackelberry« ein Bootskino, die »Panther Ray« fischt Müll aus dem Wasser und veranstaltet Workshops zu den Themen Recycling und Open Source, die »Anarche« will an einer Boots-Demo gegen Kohlekraftwerke teilnehmen. Es gibt Lesungen, Theater, Veranstaltungen für Flüchtlinge. Alle stehen vor derselben Frage: Wohin in Zukunft mit den Flößen? Wenn die Anwohner ihr Motorboot-Verbot durchbekommen, wenn der Luxusfloß-Architekt seine Genehmigung erhält, wenn noch mehr Bootsbesitzer mit Geld auf das Wasser drängen, dann wird es eng in der Bucht.
Beim Plenum ist die Rednerliste lang. Es wird diskutiert, welche anderen Orte als Liegeplätze in Frage kämen, wie man am besten mit den Ämtern der Stadt verhandelt, welche Gesetze und Gesetzeslücken es gibt, wie man die Anwohner ins Boot holt. Es ist ein zähes Ringen. Manche meinen: »Wir müssen mit den Entscheidungsträgern weiterhin kooperieren.« Andere: »Wir sind Piraten – wenn wir etwas wollen, müssen wir es uns nehmen und nicht darauf warten, bis man es uns erlaubt.« Die Nacht senkt sich, die Bierflaschen im Sitzkreis werden leerer. Über den Köpfen leuchtet eine rote Lampe mit einem Anarchie-A, dessen Serifen sich zu einem Anker verlängern.
»Der Fluss ist natürlicherweise ein Ort des Widerstands«, sagt später der Spree:publikaner Thomas Scheele. Während sich an Land Strukturen bald verfestigen, könne man sie am Wasser immer wieder neu aufbauen. Scheele engagiert sich beruflich in der sogenannten Clubcommission, einem Verband in der Berliner Subkultur, um Politik und Verwaltung mit den sogenannten Spontannutzern ins Gespräch zu bringen. Das sind jene lose Gruppen junger Menschen, die in leerstehende Fabriken und Brachen einsteigen, Musikanlagen aufbauen, eine Nacht ordentlich rummeln, Open Airs, Raves und Mini-Festivals veranstalten und wieder verschwinden. Berlin war früher mal voll davon, aber es wird schwieriger – Gentrifizierung. Seit zwei Jahren ist Scheele nun im Kollektiv der »Nuria« dabei. »Auf dem Wasser haben wir es auch mit temporären Nutzungsräumen zu tun«, sagt er. Flöße könnten einfach ihren Standort ändern, bevor sie verdrängt werden, und könnten dadurch nie völlig weggentrifiziert werden. Zumindest solange es legale Liegeplätze gibt. Die Spree:publik hätte gern einen Kulturhafen in Stadtnähe.
Wie läuft das in Städten, die noch stärker vom Wasser geprägt sind als Berlin? Ich fahre nach Hamburg, wo auf der Alster ebenfalls ein Verdrängskampf geführt wird, Kapital versus Kultur. Auf einem Bauplatz auf der Veddel steht Sanne Neumuth, eine junge Frau, blonder Dutt, Rock über Leggings, zwischen zwei rostigen Rohren, die die Schwimmkörper für das Kulturfloß »Schaluppe« sind. »Wenn du dir keinen Sportbootschein, kein eigenes Boot und keinen Liegeplatz leisten kannst, kommst du als Hamburger gar nicht mehr aufs Wasser«, sagt sie. Aber der Wunsch, das Wasser zu nutzen, sei gerade in dieser Stadt sehr ausgeprägt – und das selbstgebaute Floß sei eben eine Manifestation dieses Wunsches.
Der »Verein für mobile Machenschaften« – ein Freundeskreis von etwa dreißig Leuten – hat 20 000 Euro via Crowdfunding eingesammelt. Damit wird jetzt wird ein offenes Kulturfloß gebaut, mit dem man Hamburg aus neuer Perspektive erfahren kann. Das Floß soll alle Genehmigungen und Scheine haben, die es in Hamburger Gewässern braucht: Dort, wo Containerschiffe die Fahrrinne kreuzen und die Wellen hochschlagen, würde man mit einem improvisierten Schrottfloß schnell untergehen. Im Team der »Schaluppe« sind Nautiker, Schiffbauingenieure, Tischler, Bootsbauer, Kulturwissenschaftlerinnen, Erlebnispädagoginnen und auch Geflüchtete. Sie schlafen wenig und bauen an dem Floß, das noch in diesem Jahr seine Jungfernfahrt erleben soll. »Wir verwirklichen hier unseren Traum – und den von allen anderen gleich mit«, sagt Neumuth.
Auf einigen alternativen Festivals, die im Sommer an deutschen Seen stattgefunden haben, gab es Floßbauworkshops. In Leipzig baut ein junger Designer ein Kulturfloß, um darauf schwimmende Ausstellungen zu veranstalten. Die Künstlergruppe »Geheimagentur« bereitet einen »Hafen für Interventionistische Seefahrt« in Hamburg vor und vernetzt sich mit anderen Künstlern weltweit, die sich dem »Radical Seafaring« verschrieben haben – der radikalen Seefahrt. Es scheint, als würde sich der Kampf um die städtischen Freiräume, der früher in stillgelegten Industriehallen geführt wurde, gerade auf das Wasser ausweiten. So unterschiedlich die Freibeuter und ihre Aktionen sind, sie alle eint eine gemeinsame Idee: »Reclaim the Water«.
Fotos: Ériver HijanoGreta Taubert und Ériver Hijano
Die Autorin Greta Taubert und der Fotograf Ériver Hijano waren beeindruckt davon, wie lässig die Piraten an Bord gehen: Sie springen einfach von den Ufermauern auf die schaukelnden Flöße. Mittlerweile haben sich beide getraut: Wenn ihnen jemand die Hand reicht, springen sie auch selbst.